Die helvetischen Enquêten

Am Ende des 18. Jahrhunderts boten sich der einem Modernisierungsideal verpflichteten, im Aufbau befindlichen Verwaltung verschiedene Möglichkeiten, Informationen zu beschaffen: Berichte, Visitationen oder auch sogenannte Enquêten, das heisst Umfragen, die anhand detaillierter Fragen eine strukturierte Beantwortung erforderten. Letztere standen in der wissensgeschichtlichen Tradition der Universalstatistik, die sich im 18. Jahrhundert als Teil der Staatswissenschaft etabliert hatte, um Territorien zu erfassen und damit Grundlagen für das künftige, planvolle Staatshandeln zu generieren. In mancher Hinsicht basierten die in der Helvetik genutzten Instrumente und Praktiken auch auf den von den gelehrten Gesellschaften und namentlich von der Ökonomischen Gesellschaft Bern verfolgten ökonomisch-aufklärerischen Aktivitäten des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts.[1] Neu war, dass sich die Umfragen nun auf ein übergeordnetes Staatsgebiet, auf die Helvetische Republik bezogen. Die in gelehrten Gesellschaften noch handlungsleitende Zielsetzung der Volksaufklärung mutierte dabei zum Zweck, die notwendigen Verwaltungsgrundlagen zu erhalten. Im helvetischen Zusammenhang verbanden sich die Enquêten und die weiteren Instrumente der Informationsbeschaffung mit den Projekten der topografischen Vermessung und eines Grundbuchs, für die Minister Stapfer 1798 ein eigenes «Bureau de renseignements geographiques et statistiques sur I’Helvétie» und damit eine eigentliche Planungsbehörde einrichten wollte (siehe dazu «Raumkenntnisse, Kartenwissen», Kapitel «Projekt einer topografischen Vermessung und eines Grundbuchs»).

Martin Mattmüller sah in den Enquêten «eine der grossen Leistungen der Helvetik».[2] Er hatte damit die Volkzählungen, die Pfarr-, Kloster-, Schul-, Buchhändler- und Künstlerenquêten vor Augen. Die Strassenumfragen nannte er nicht.[3] André Holenstein hat die helvetischen Enquêten 2014 in einer Studie zusammengestellt. Er zählt vom April 1798 bis im August 1801 rund zwanzig Enquêten beziehungsweise Umfrageprojekte und interpretiert sie aus wissens- und verwaltungsgeschichtlicher Perspektive: «Die Enquêten sind aufschlussreiche Indikatoren für das politische Selbstverständnis und die Reformagenda jener Kreise in der geistig-kulturellen Elite des Landes, die mit der Ausrufung der Helvetischen Republik 1798 die lang ersehnte Gelegenheit für eine nachholende Fundamentalmodernisierung des Landes gekommen sahen, die aus der Schweiz ein Staatsgebilde nach modernen, das heisst nach vernünftigen Massstäben machen sollte. Die Regierungs- und Verwaltungstätigkeit der jungen Republik sollte auf eine rationale Grundlage gestellt werden, was methodische Politikplanung ermöglichen sollte. Die empirische Dokumentation der herrschenden Verhältnisse sollte umfassende Informationen zu den natürlichen Ressourcen sowie zum kulturellen Potential des Landes bereitstellen, die für den Aufbau einer neuen, besseren Schweiz benötigt wurden. […] Genaue Kenntnisse der Lokalverhältnisse waren eine notwendige Voraussetzung für die Formulierung und Umsetzung des Reformprogramms der helvetischen Politiker, die für sich in Anspruch nahmen, im Unterschied zu den Machteliten des Ancien Régime das Gemeinwohl der ganzen Nation und nicht nur die Interessen privilegierter Stände und Korporationen im Blick zu haben. Während die Helvetische Generation das traditionelle Denken für die Rückständigkeit alteidgenössischer Staatlichkeit verantwortlich machte, nahm sie für sich in Anspruch, die grossen Veränderungen im Wissen um die aktuelle Lage der Nation an die Hand zu nehmen. […].

Über diese staatspolitischen und verwaltungstechnischen Aspekte hinaus besassen die Enquêten auch eine eminente symbolische und kulturelle Bedeutung für die Konstruktion einer schweizerischen Nation und Identität. Die Umfragen dokumentierten die Lokalverhältnisse mit einheitlichen, standardisierten Fragekatalogen. Damit sollten die Informationen grundsätzlich auf nationaler Ebene vergleichbar gemacht werden. Zwar bestätigten die Umfragen die hinlänglich bekannte Vielfältigkeit und Uneinheitlichkeit der Verhältnisse im Land und legten damit nur allzu deutlich offen, welche enormen Hindernisse sich der Bildung der Nation noch in den Weg stellten. Die Enquêten sind gleichwohl als Teil jenes großen kulturpolitischen Programms der helvetischen Elite zu betrachten, die die alte Eidgenossenschaft mit ihren zufälligen, uneinheitlichen Verhältnissen zur modernen helvetischen Nation umformen wollte. Die Umfragen definierten jenen staatlichen Raum, wo es diese Idee der schweizerischen Nation zu popularisieren und umzusetzen galt, die bislang hauptsächlich in den Köpfen einer aufklärerischen, geistig-kulturellen Elite beheimatet gewesen war. […].

Fragt man nach der Nutzung der Information, die die Enquêten dem helvetischen Staat zuführten, so lassen sich keine allgemeinen Aussagen formulieren, zumal sich die Helvetik-Forschung bislang weder für die Enquêten im Allgemeinen noch für deren politische Nutzung im Besonderen interessiert hat.»[4] Diesbezüglich führt nun die Strassenenquête einen entscheidenden Schritt weiter. Es lassen sich sowohl deren veraltungsgeschichtliche Implikationen als auch die mit diesen verfolgten Ziele detailliert nachzeichnen.

Link zum zitierten Text.

Link zu den Strassenumfragen.



[1] Vgl. dazu: Gerber-Vissier, Gerrendina. Die Erfassung des Territoriums mittels Enquêten und beschreibender Statistik, in: Holenstein, André (Hg.). Berns goldene Zeit, Bern 2008, 41–45; Gerber-Visser, Gerrendina. Die Ressourcen des Landes. Der ökonomisch-patriotische Blick in den Topographischen Beschreibungen der Oekonomischen Gesellschaft Bern (1759–1855), Baden 2012. Zum Begriff der ökonomischen Aufklärung vgl. Popplow, Marcus. Die Ökonomische Aufklärung als Innovationskultur des 18. Jahrhunderts zur optimierten Nutzung natürlicher Ressourcen, in: Popplow, Marcus (Hg.). Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts, Münster u.a. 2010, 3–48.

[2] Mattmüller, Markus. Die Umfragen der Helvetik, in: Simon, Chriatian; Schluchter, André (Hg.). Dossier Helvetik – Dossier Helvétique, Bd. 1, Souveränitätsfragen, Militärgeschichte, Basel und Frankfurt a. M., 1995, 243–245, 243.

[3] Mattmüller 1995, 245.

[4] Holenstein, André. Reform und Rationalität. Die Enquêten in der Wissens- und Verwaltungsgeschichte der Helvetischen Republik, in: Tröhler, Daniel; Messerli, Alfred; Osterwalder, Fritz; Schmidt, Heinrich Richard (Hg.). Volksschule um 1800. Studien im Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête 1799, Bad Heilbrunn 2014, 13–32, 19f., zit. 23–25; vgl. dazu auch Holenstein, André. Die Helvetik als reformabsolutistische Republik, in: Schläppi, Daniel (Hg.). Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, Basel 2009, 83–104.